"Prima
Vista" präsentiert neben Zeichnungen von Andreas
Seltzer auch Texte von ihm über das Zeichnen:
hintergründige Vignetten und Anekdoten. Der exquisite
Katalog erschien anlässlich der gleichnamigen, in der
Berliner Laura Mars Gallery gezeigten Ausstellung des Künstlers.
Die Zeichnungen von Andreas Seltzer sind Grotesken, die zwischen
Karikatur und schwarzem Humor, zwischen Schreckbild und magischem
Zauber, zwischen Rückgriffen auf den Manierismus und
karnevalesken Erfindungen wechseln. Den Grund dieser Arbeit
bilden die Farben Schwarz, Rot und Weiß. Mit dieser
reduzierten Farbwahl ist die Intention verbunden, durch Sparsamkeit
der Mittel die Wirkung der Bilder zu erhöhen. Das Schwarz
fungiert dabei als Arsenal, das alle möglichen Gewichtungen
bereithält um, – je nach Motiv – den Bildern
Schwere oder auch skizzenhafte Leichtigkeit zu geben. Das
Rot spielt hingegen die traditionelle Rolle des Aufmerksamkeit
erheischenden Signals, das im Genre der Wimmelbilder Orientierung
bietet. Das Weiß, zusammengesetzt aus umrissartigen,
splitterhaften, akribisch erfassten Figurationen, zeigt Aufblicke
wie Durchblicke: vor dicht karierten Hintergründen werden
diese Elemente zu Akteuren, die jene Bildteile zum Tanzen
bringen.
Auszug aus "Prima Vista":
Zeichnen, Tanzen
Aus der Sicht der Finger, die den Zeichenfüller
halten, ist die Fläche, die es zu erobern gilt, ein riesiges,
weißes Terrain voller Gefahren. Die Bewegung auf ihm
ist ein Vorwärtsstreben, das längeres Verweilen
sofort mit einschmelzenden dunklen Flecken verrätselt.
Punkte und Striche bilden ein Team, das irgendwo am Horizont
des Formats sein Ziel findet. Das Besondere an dieser Bewegung
ist, dass sie dem Tanz ähnlicher ist als etwa das Wandern.
Der Rhythmus der Kreis- und Halbkreisbildung, das Vor- und
Zurückpendeln, die Sicherung der Seitenlinien, das Wiederholen
und Variieren spontan entwickelter Bewegungsfiguren –
all das zeigt fließende Lineamente, die nichts anderes
sind als Kontrollelemente, die Zentimeter um Zentimeter die
Trittsicherheit zu überprüfen suchen.
Zeichnen, Erinnern
In dem Maße, in dem das Zeichnen, das assoziative
Zeichnen, Haupttätigkeit geworden ist, verlieren die
Worte, verliert das Schreiben an Kraft. Vielleicht ist das
eine Form des Gedächtnistrainings, das dazu führt,
dass die Bildhaftigkeit der Dinge behalten wird, aber, nun
vertraut mit den metamorphotischen Eigenschaften und der Skepsis
gegenüber den Festlegungen des Verbalen, die Namen und
Begriffe vergessen werden. So könnte eine Variante der
Demenz sich entwickeln: das Gespenst des Bildidioten, der
lallend auf seine Zeichenkrakel weist und in Aphasie versinkt.
Trinken und Zeichnen
Manchmal kommt das Glas Wein am Abend in die Nähe
des Tuscheglases. Dann gibt es die Versuchung, einen jener
um Inspiration ringenden, von Abgabeterminen gefolterten Zeichner
darzustellen, die Robert Crumb so häufig als Selbstporträts
zeigt und die im letzten Verzweiflungsakt die Tinte in sich
hineinschütten. Tinte ist da die fantasie-bringende Substanz,
die alle inneren Organe imprägniert, Blut, Schweiß
und Tränen einfärbt und den Körper in ein Zeichengerät
verwandelt.
„Die Tinte ist mein natürliches Element. Schöne
Flüssigkeit übrigens, diese dunkle Flüssigkeit.
Und gefährlich! Wie man darin ertrinken kann! Und wie
sie einen anzieht!“ (Gustave Flaubert, am 14. August
1853, zitiert aus: Jean Starobinski, Kleine Geschichte des
Körpergefühls, Konstanz 1987.)
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english version:
"Prima Vista" presents drawings by Andreas
Seltzer and – in an insightful collection of
polished vignettes and anecdotes – his writing about
drawing. This handsomely designed catalog was published on
the occasion of the artist's exhibition of the same name,
which took place at the Laura Mars Gallery in Berlin.
Andreas Seltzer's drawings are grotesques that alternate between
caricature and black humor, between horror and magical enchantment,
between Mannerism and carnivalesque inventions. The colors
black, red, and white form the basis of this work. This reduced
choice of colors is motivated by the intention to increase
the effect of the pictures through economy of means. Black
functions as an arsenal that has all possible weights in store
to lend – depending on the motif – gravity or
sketchy lightness to the pictures. Red, on the other hand,
plays the traditional role of the eye-catching signal that
provides orientation in the genre of hidden object pictures.
White, in the form of outline-like, splinter-like, meticulously
captured figurations, is used to show views from above as
well as vistas: against densely checkered backgrounds, these
elements become actors that make those other parts of the
picture dance.
Translated excerpt from "Prima Vista":
Drawing, Dancing
From the perspective of the fingers holding the drawing pen,
the area to be conquered is a vast white terrain full of potential
risks. Moving the pen means to strive forward while being
aware that any lingering will result in dark, puzzling spots.
Dots and strokes form a team that finds its goal somewhere
on the horizon of the playing field while challenging the
format. The special thing about these movements is that they
are more similar to dancing than, for instance, walking is.
The rhythm of drawing circles and semicircles, swinging back
and forth, securing the sidelines, repeating and varying spontaneous
moves and improvised patterns – all this results in
flowing lineaments that are nothing but control elements seeking
to guarantee inch by inch, step by step the sure-footedness
of the endeavor.
Drawing, Remembering
To the extent that drawing, associative drawing, has become
the main activity, words lose their power, writing loses its
force. Perhaps this activity is some form of memory training
with the result that one remembers the visual aspects of things
but – now familiar with their metamorphic nature and
skeptical of the predeterminations of language – forgets
names and terms. Thus, a new variant of dementia might appear:
the specter of a babbling, picture-crazy idiot who points
to his scribbles while sinking into aphasia.
Drinking and Drawing
In the evening, a glass of wine sometimes happens to be placed
next to the inkpot. Then, the temptation arises to portray
one of those cartoonists struggling for inspiration and tortured
by deadlines, as depicted countless times by Robert Crumb
as a self-portrait – cartoonists downing ink in a final
act of desperation. Ink is in this case an imagination-enhancing
substance, impregnating all internal organs, coloring blood,
sweat, and tears, and transforming the whole body into a drawing
instrument.
"Ink is my natural element. A beautiful liquid, by the
way, this dark liquid. And it is dangerous! How you can drown
in it! And how it attracts you!" (Gustave Flaubert)
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